chairlounge

Bücher über kleine, große und fremde Welten

Regeln, Situationen, ungeschriebene Gesetze

Wir begegnen ihnen seit unserer Kindheit und trotzdem fallen Sie uns kaum auf – diese Situationen, Regeln und ungeschriebenen Gesetze, die in Märchen immer und immer wieder auftauchen. Einerseits nervig, andererseits liebgewonnene alte Bekannte – jedenfalls nicht aus Märchen wegzudenken. Wir stellen euch ein paar unserer liebsten Märchen-Regeln vor und erzählen, wo wir sie gefunden haben. 

Wetten, dass ihr die eine oder andere wiedererkennt? 😉

Der jüngste Sohn

Die Regel lautet: Der jüngste Sohn ist am Ende immer der (moralische) Sieger!

Wie kommt ihr denn da drauf?:

Drei Katzen

Welches dieser drei Geschwister ist wohl der glückselige jüngste Sohn?

Der jüngste Sohn aus der Fischersohn, der Rappe und der Schimmel wird von seinem Vater an ein kleines graues Männchen verkauft. Der Vater bekommt viel Geld dafür, der jüngste Sohn immerhin ein vermeintlich angenehmes Leben: Er muss lediglich zwei Pferde füttern und darf ein ganz bestimmtes Buch nicht lesen und hat sonst alle Annehmlichkeiten diese Welt. Fast. Denn bei einem Besuch bei seinen Eltern stellt er fest, dass die alle durch den Verkauf steinreich sind und die beiden größeren Brüder fett geheiratet haben. Da greift der jüngste Sohn auf Empfehlung seiner Mutter doch zum verbotenen Buch und erfährt allerhand über den Hof. Unter anderem, dass der Schimmel, den er füttern muss, eine verwunschene Prinzessin ist. Praktischerweise befindet sich in dem Buch auch gleich die Anleitung zur Befreiung, die er ohne zu zögern erfolgreich ausführt. Jetzt ist der jüngste Sohn nicht nur reicher als der Rest seiner Familie, sondern hat auch noch eine megatolle Prinzessin zur Frau (s. auch Regel: Die Prinzessin).

Der andere jüngste Sohn gilt gemeinhin – und das heißt im ganzen Dorf – als dumm. Sein großer Bruder ist viel schlauer und fleißiger und macht alles besser. Demzufolge ist der Vater auf ihn stolz und auf den Kleinen nicht. Der kleinere jedoch beneidet seinen großen Bruder vor allem um eine Eigenschaft: das Gruseln. Der Große macht zwar alles, aber nicht mehr, wenn es dunkel ist. Denn dann fürchtet er sich und das würde der kleinere von beiden auch sooo gern lernen. Er zieht also los, das Fürchten zu lernen. Ein Wunsch, über den seine Familie nur schmunzeln kann. Aber da es ihm ernst ist, lassen sie ihn ziehen. Long story short: er lernt es eine ganze Weile nicht. Nicht einmal als er im verwunschenen Schloss hockt und nur drei Nächte ausharren muss, um danach die Prinzessin heiraten zu dürfen. Das haben viele vor ihm schon probiert, aber allen ging irgendwann der Stift und sie türmten und ließen die Prinzessin sausen. Der Kleine ist zwar gar nicht an der Prinzessin interessiert, aber er freut sich auf den Grusel. Der leider für ihn nicht eintritt. Egal, was das Schloss auffährt – der Junge reagiert höchstens genervt oder mit naivem Unverständnis. Nach drei Nächten hat er dann endlich die Prinzessin, den Respekt des Königs und … tadaaaa, irgendwann später bringt ihm seine Gattin sogar das Fürchten bei (mittels einem Haufen kleiner Fische!). Herzlichen Glückwunsch!

Der nächste jüngste Sohn gilt schon wieder als dumm. Dabei hat er eigentlich nur keine Lust, den Quatsch seiner großen Brüder mitzumachen und zum Beispiel armen unschuldigen Enten hinterherzujagen. Er ist mit seinen Brüdern unterwegs und die haben auf genau solche Blödsinnstaten aber Lust: Enten töten, Bienen verbrennen, Ameisen ärgern. Der jüngste (in den Augen seiner Brüder die Spaßbremse) verhindert die Taten und schließlich kommen die drei an ein Schloss. Hier ist alles etwas merkwürdig: versteinerte Pferde stehen herum, Türen sind mit Schlössern gesichert und ein stummes Männchen nimmt die drei in Empfang. Immerhin dürfen die Brüder im Schloss nächtigen, aber am nächsten Tag warten drei scheinbar unlösbare Aufgaben auf sie. Die beiden älteren Brüder scheitern erwartungsgemäß daran und werden zu Stein (hier stellt sich kurz die Frage, ob die Pferde diese Aufgaben auch schon lösen sollten), dem jüngsten aber kommen all die Tiere zu Hilfe, die er vorher vor seinen Brüdern bewahrt hatte und er schafft es, die drei Aufgaben zu lösen. Daraufhin werden seine Brüder wieder aus dem Stein befreit und der jüngste erhält außerdem als Belohnung – na, was wohl (s. Regel Die Prinzessin)? 😉

Wo habt ihr das denn her?: 

Märchen 1: Der Fischersohn, der Rappe und der Schimmel, aufgeschrieben von Johanna Wilhelm Wolf

Märchen 2: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen (Brüder Grimm)

Märchen 3: Die Bienenkönigin (Brüder Grimm)

Die Lüge

Die Regel lautet: Lügen haben kurze Beine

Wie kommt ihr denn da drauf?:

Der Schäfer im nigerianischen Märchen Warum man nicht lügen soll bringt sein Dorf durch einen blöden Scherz unnötig in Aufruhr, als er behauptet, ein Löwe würde über seine Schafherde herfallen. Als sich herausstellt, dass der Schäfer gelogen hat, sind verständlicherweise alle sauer. Ein paar Nächte später wird der arme Mann wirklich von einem Löwen angegriffen und wer kommt ihm zu Hilfe, als er schreit? Richtig: niemand.

Der böse Prinz gibt sich als weltmännischer Charmeur aus und heiratet die älteste von drei Bauerntöchtern. Auf seinem Schloss – weit, weit weg von der Heimat der jungen Frau – entdeckt sie sein grausames Geheimnis: Der Prinz tötet all seine unliebsam gewordenen Ehefrauen und bewahrt ihre Köpfe auf. Dummerweise kriegt er spitz, dass seine Gemahlin sein Geheimnis kennt und tötet auch sie. Dann kehrt er dreist zu ihren Eltern zurück, erzählt ihnen unter Krokodilstränen und -kummer vom Tod ihrer ältesten und nimmt zum Trost die zweitälteste mit. Das Spielchen wiederholt sich und um seinen Schmerz zu lindern, bekommt er auch noch die jüngste Tochter. Die allerdings kommt ihm auf die Schliche, ohne dass er es bemerkt, sie gibt ihren Eltern seine Fiesereien preis (indem sie ihnen die Köpfe ihrer toten Töchter präsentiert …) und der Mistkerl kommt in den Knast. Das allein belegt schon ausreichend oben genannte Regel, aber die eigentliche Pointe des Märchens das Ende. Der kluge Papagei, der die Frauen immer gewarnt hat, kann endlich sein goldenes Ei ausbrüten. Dieses Ei erhielten die drei Frauen von ihrem Mann zum Spielen und es hat die ersten beiden Frauen verraten. Nach ausreichender Bebrütung schlüpft aus dem Ei eine Schlange, die den Prinzen verschlingt. Klasse, oder?

Wo habt ihr das denn her?:

Märchen 1: Warum man nicht lügen soll (Nigeria) https://hekaya.de/maerchen/warum-man-nicht-luegen-soll–afrika_191.html 

Märchen 2: Das goldene Ei (Ludwig Bechstein)

Die Prinzessin

Die Regel lautet: Wer eine Prinzessin rettet, erhält die Lovestory gleich dazu (und das Königreich).

Wie kommt ihr denn da drauf?:

Bekannt ist dieses Prinzip aus Grimms Märchen. Da werden bekanntlich gern mal Prinzessinnen gerettet und geheiratet (Dornröschen, Schneewittchen, …). Dass dieses Phänomen auch über die altdeutschen Grenzen hinaus bekannt und beliebt war, wussten wir auch nicht.

Doch auch im Ausland scheint das Befreien einer (wo auch immer) gefangenen Prinzessin eine gute Sache zu sein. Gilang aus Indonesien befreit die Sonnenprinzessin aus dem Bauch einer Schlange. In der Folge wird nicht nur die Welt wieder neu erhellt, sondern Gilang erhält auch die lebensrettende Medizin für seinen kranken Vater von der Prinzessin. Natürlich sind die beiden da längst schon ineinander verliebt. Das Glück hält jedoch nicht lange, da Gilang seine Sonnenprinzessin verlässt, um seinem Vater zu helfen. Das ist so heldenhaft, dass sich sogar die Prinzessin darüber freut, obwohl sie traurig ist.

Der jüngste Sohn des Fischers aus Der Fischersohn, der Rappe und der Schimmel verwandelt den Schimmel in dessen ursprüngliche Form zurück – eine Prinzessin. Dass die beiden quasi vom Fleck weg heiraten, muss an dieser Stelle wahrscheinlich nicht mehr erwähnt werden.

Wo habt ihr das denn her?:

Märchen 2: Gilang, die verzauberte Brille und die Sonnenprinzessin (Indonesien)

Märchen 3: Der Fischersohn, der Rappe und der Schimmel, (Johann Wilhelm Wolf)

Die Stiefmutter

Die Regel lautet: Die Stiefmutter ist immer böse, kriegt am Ende aber ihre gerechte Strafe

Wie kommt ihr denn da drauf?:

Da müssen wir gar nicht lange suchen: Grimms Märchen sind voll von diesen miesepetrigen, neidischen, gewalttätigen und hinterlistigen Frauen, die nichts lieber wollen, als ihre Stieftochter loswerden und – so vorhanden – ihre eigenen Töchter gnadenlos bevorzugen. Böse Stiefväter gibt es dagegen nicht, man hört nie davon, dass die Kinder der Frau von dem neuen Vater schlecht behandelt werden.

Stiefmütterchen

Selbst in Pflanzenform guckt eine Stiefmutter grimmig.

Meist läuft die Story so: Mann verliert Frau, nimmt sich eine neue und die kann die Kinder nicht leiden und schikaniert sie. Oft sind es insbesondere die Töchter, die Saures kriegen. Wenn die Stiefmutter eigene Kinder mit in die Ehe bringt, sind die oft hässlich und/oder doof und die Stieftochter hübsch und klug.

Der klassische Fall hierzu ist Schneewittchen. Der Plot: Eine Königin gebiert ein Kind, stirbt aber dabei. Das Kind wird Schneewittchen genannt. Der König nimmt sich eine neue Frau, stolz und schön und sehr erpicht darauf, die Schönste zu sein. Um sich zu versichern, dass das auch wirklich so ist, befragt sie immer ihren Spiegel, der auch immer schön die Wahrheit sagt. Als nun das Kind ein hübscher Teenager wird, sagt der Spiegel der Königin, dass sie nur noch die Zweitschönste ist – und zack ist Schneewittchens Schicksal besiegelt. Denn die Königin will das Mädchen aus Eifersucht töten lassen. Jetzt kommt die Nummer mit den Zwergen, der Prinzessinnen-Haushälterin und dann (der Spiegel ist ja sehr wahrheitsliebend) leider die Tatsache, dass die Königin erfährt, dass ihre Stieftochter noch lebt und immer noch schöner als sie selber ist. Anstatt zu einem anständigen Therapeuten zu gehen, verübt sie drei (Gift-)Anschläge auf die junge Frau. Glücklicherweise sind bei den ersten die Zwerge zur Stelle und beim dritten fällt der Apfel schlussendlich aus dem Mund der Prinzessin und alles wird gut: Schneewittchen heiratet den Prinzen und die böse Stiefmutter muss in „rotglühenden Schuhen“ (aus Eisen, überm Feuer erhitzt) tanzen, bis sie tot umfällt. Ende gut, böse Mama erledigt.

Auch Hänsel und Gretel zeigt, wie mies Stiefmütter sein können: Es ist nämlich die Stiefmutter, die den Vater in der Hungerszeit anstiftet, die Kinder in den Wald zu schicken und so das restliche Brot für sich selbst zu haben. Dem Vater tut das in der Seele weh, aber nun denn, die Einflüsterungen sind zu stark. Und so müssen die Geschwister in ihrem jungen Leben Mut beweisen und sich mit der bösen Hexe auseinandersetzen. Sie schaffen es sogar wieder nach Hause, mit den Taschen voller Beutegut von der Hexe. Hier wird die Stiefmutter keiner Strafe zugeführt, aber da sie zwischenzeitlich gestorben ist, hat sich „das Problem“ auch erledigt …

Brüderchen und Schwesterchen haben nicht nur eine Stiefmutter, nein, die Frau ist gleich auch noch Hexe. Die Geschwister bekommen zu Hause nur Wasser und Brotkanten und als sie beschließen, ihrem Elend ein Ende zu setzen und fortzulaufen, verhext die Frau gleich alle Quellen im Wald. Trinkt man davon, verwandelt man sich in ein Reh, in einen Tiger, einen Wolf oder sonst ein wildes Tier. Klar, irgendwann ist der Durst zu groß und der Bruder wird ein Reh – das aber noch sprechen kann. Wie es im Märchen gerne so passiert, finden die beiden glücklicherweise eine Hütte im Wald und eines Tages ist Jagd und der König lernt das Schwesterchen kennen und die beiden heiraten stantepede und leben glücklich und vergnügt, auch das Reh zieht in den Palast. Das wiederum bekommt die Stiefmutter irgendwann mit – und anstatt einfach froh zu sein, dass sie die beiden los ist, wird sie neidisch auf deren Glück und noch garstiger. Mit ihrer eigenen (hässlichen) Tochter schleicht sie sich ins Schloss und holt Schwesterchen aus dem Wochenbett und die beiden bösen Weiber stecken die noch von der Geburt Geschwächte in ein viel zu heißes Bad. Mission: Stieftochter erledigen und die eigene Tochter an ihrer Stelle zur Königin machen. Glücklicherweise geht das schief und die beiden Frauen werden vor Gericht zum Tode verurteilt.

Ein weiterer Klassiker mit armer Tochter und Stiefmutter ist natürlich Aschenputtel. Wir verwetten jedoch alles mögliche darauf, dass kaum noch jemand weiß, dass in Wirklichkeit der Vater von Aschenputtel noch lebt und sie mit gleich zwei blöden Stiefschwestern geplagt ist. Es ist eine weitere Geschichte, in der die eigentliche Mutter stirbt und der Vater nach einem Jahr wieder heiratet. Die neue Frau bringt zwei Mädchen mit in die Ehe, die hübsch sind und auch nicht dumm, aber sie sind böse und unsympathisch. Die drei „neuen“ Frauen machen dem Mädchen das Leben schwer, es darf nicht mehr in schönen Kleidern herumlaufen, muss die schwere Arbeit machen und wird so zur Dienerin degradiert. Auf dem Grab der Mutter pflanzt Aschenputtel einen Haselnussstrauch – und dreimal am Tag sitzt sie dort und weint und betet. Manchmal bittet sie um etwas, das sie gerne hätte (denn zu Hause bekommt sie ja nichts mehr) und dann wirft ein weißer Vogel ihr das Gewünschte herunter. So kommt sie auch zu den schönen Kleidern für den bekannten Ball, auf dem sich der Prinz in sie verliebt und gar nicht mehr loslassen will. Um herauszufinden, wer die Schöne ist, die am Ende des Balls immer abhaut, lässt er die Stufen mit Pech bestreichen. So bleibt Aschenputtels einer Schuh hängen – und weil der so klein ist, meint der Thronfolger, damit seine Tänzerin herausfinden zu können. Er hat allerdings die Rechnung ohne die ehrgeizige Stiefmutter gemacht, die ihrer ältesten Tochter rät, sich die Zehe abzuhacken, um in den Schuh zu passen. Als das dank einiger sprachkundiger Tauben herauskommt, versucht die herzlose Stief- und Mutter ihre jüngere Tochter mit dem Prinzen zu verheiraten – sie soll sich einfach die Ferse abschneiden, um in den Schuh zu passen. Aber auch das vereiteln die Tauben (der Prinz hätte nix gemerkt, by the way). Und dann kommt endlich Aschenputtel zum Zuge. Und die Strafe? Die Mutter geht leer aus, aber die beiden Schwestern erwischt es noch: Ihnen werden von den Tauben die Augen ausgepickt.

Es gibt noch einiges mehr an solchen Geschichten, in denen richtig miese Stiefmütter ihren Stiefkindern das Leben im wahrsten Sinne zur Hölle machen. Glück hat das Stiefkind nur, wenn es – wie die Goldmarie bei Frau Holle – irgendwie reich heim kommt und so ein Gut hat, das die Stiefmutter haben will. Was einen dabei verwundert: Warum eigentlich werden die drakonischen Strafen (ja, das sind sie wirklich) aus den Märchen gestrichen, aber die Missetaten nicht? Selbst bei Disney wird Schneewittchen vergiftet, aber eine Strafe gibt es für die Stiefmutter nicht. Denkt man aber darüber nach, wie empört alle über die Giftanschläge in den letzten Jahren waren, sollte es schon eine Strafe geben, oder? Könnte man ja nach unserem heutigen Rechtsverständnis anpassen.

Was uns auch erstaunt – aber wahrscheinlich in die Zeit passt, in der die Märchen entstanden sind – ist die nicht vorhandene Chuzpe der Väter bzw. Ehemänner: Haut etwa der Vater von Hänsel und Gretel mal auf den Tisch und sagt, „Nein, das sind meine Kinder, die habe ich lieb, die werden nicht in den Wald in den sicheren Tod geschickt, basta“? Nix da. Weist Aschenputtels Papa seine neue Frau mal in die Schranken und sorgt dafür, dass seine Tochter nicht nur arbeiten muss? Fehlanzeige.

Zurück zu Es war einmal … damals …


Fotos:

Drei Katzen © Andreas Agne/PIXELIO
Stiefmütterchen © knipseline/PIXELIO

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..