chairlounge

Bücher über kleine, große und fremde Welten

Heaven

Die Schule kann ein ziemlich beschissener Ort sein. Ein 14-jähriger Junge aus Japan und seine gleichaltrige Mitschülerin Kojima erfahren das im Roman Heaven täglich und wortwörtlich am eigenen Leib. Sie sind bei ihren Mitschüler*innen aus irgendeinem Grund durch den Akzeptanztest gefallen und werden seitdem gemobbt. Fast täglich werden sie gedemütigt, erniedrigt oder psychisch und physisch misshandelt. Ihren Peiniger*innen stehen sie hilflos gegenüber, aber es gelingt ihnen, miteinander eine komplizierte Freundschaft aufzubauen, die ihnen zumindest eine Zeitlang den Rücken stärkt.

Alles beginnt mit Zetteln, die der jugendliche Erzähler ohne Namen eines Tages in seinem Schulpult findet. Kurze Nachrichten stehen darauf, Fragen wie „In welches Land würdest du gern reisen“ und Ähnliches. Erst ist der Erzähler misstrauisch – logisch, könnten doch die Briefe eine weitere Falle sein, in die er nicht hineintappen möchte. Aber irgendwann ist die Versuchung – oder die Einsamkeit – zu groß und er antwortet. Auf diese Weise lernt er Kojima kennen. Sie geht in die gleiche Stufe wie er und wird von ihren Schulkamerad*innen ebenso gemobbt wie er. Ganz behutsam bildet sich die Freundschaft zwischen den beiden.

Nach ein paar notizhaften Briefen treffen sie sich. Kojima ist bei diesen Treffen ganz anders als er, forscher und selbstsicherer. Sie stellt die Fragen, sie erzählt, sie schlägt vor, Freunde zu werden. Er ist fasziniert von ihr, sie fühlt sich bei ihm sicher und gut aufgehoben. Sie treffen sich öfter, aber sie halten ihre Verbindung in der Schule geheim, aus Angst, dem Mob noch mehr Futter in den Hals zu werfen.

Ein sicherer Ort

Ihre Treffen sind für beide ein „Safe Space“. Sein Vater ist beruflich selten zu Hause und das Verhältnis zu seiner Stiefmutter ist zwar gut, aber so richtig anvertrauen kann er sich ihr nicht. Ihre Eltern ließen sich früh scheiden, aufgrund einiger beruflicher Misserfolge ihrer Eltern lebte sie längere Zeit in Armut und baut nun langsam wieder eine Beziehung zu ihrem Vater auf, gerät aber mit ihrer Mutter immer wieder in Streit.

Davon erzählen sie sich, reden aber auch darüber, warum sie gemobbt werden. Weil sie anders seien, behauptet sie. Sie in ihren bewusst schmutzigen und nachlässigen Klamotten und er mit einem schielenden Auge – klar, dass die attraktiven, erfolgreichen und wohlbehüteten Schüler*innen sie ins Visier genommen haben. Aber die beiden – so versichern sie sich gegenseitig – mögen einander, weil sie anders sind. Doch dann passieren ein paar Dinge.

Einschlägige Ereignisse

Erstmal wird er heftig zusammengeschlagen. Das an sich ist nichts Neues, aber diesmal ist es ein bisschen schlimmer als sonst und außerdem kriegt Kojima es direkt mit. Nachdem die Jungs, die ihm das angetan haben, verschwunden sind, hilft sie ihm. Dafür schämt er sich. Obwohl sie sich beide als Opfer ihrer Mitschüler*innen betrachteten, fühlt er sich plötzlich minderwertig und schwach, als er ihr blutüberströmt und derart hilflos gegenübersteht.

Dann gerät er doch tatsächlich in einen Dialog mit einem seiner Peiniger. Dabei erfährt er, dass sein schielendes Auge entgegen seiner Vermutung überhaupt nichts mit dem Mobbing zu tun habe. Es sei ihnen egal, so der Schläger Momose. Sie hätten ihn einfach ausgesucht, dass er mit einem Auge schiele, sei ihnen erst viel später aufgefallen.

Aber das nächste Ereignis hat mit seinem Auge zu tun. Und das daran anschließende wieder mit den beiden. Ohne jetzt mehr verraten zu wollen: ihre Freundschaft wird durch all diese Ereignisse mehr als herausgefordert. Am Schluss ist – wie so oft – nichts mehr wie es war. Sein Welt- und Menschenbild und seine Selbstwahrnehmung werden ordentlich durcheinandergewirbelt und er hat danach genug zu tun, die Scherben wieder zusammenzusetzen.

Fazit: Spannung, Frust und wieder diese Frauenfigur …

Laut Kritikerstimmen auf dem Klappentext sei das Buch packend, erschütternd und einfühlsam. Stimmt erstmal alles. Ich war außerdem interessiert, eine Schul- bzw. Teeniegeschichte aus Japan zu lesen. Auch dieser Wunsch wurde erfüllt. Wobei: kulturell kommt wenig rüber. Die Geschichte hätte auch in Chicago oder in Bonn spielen können. Auch die Entwicklung der Freundschaft betreffend war ich am Schluss nicht zu 100 % zufrieden: haben die beiden einander eigentlich vertraut? Sie mochten sich und sie haben einander wertgeschätzt. Aber als die Kette von Ereignissen begann, war die Furcht vor gegenseitiger Geringschätzung doch größer als ihr Vertrauen in die Freundschaft.

Dazu kommt das ewige Thema Mobbing: kriegt das wirklich niemand an einer Schule oder außerhalb mit? Lehrkräfte, Eltern, Ärzt*innen? Der Junge kommt immerhin schwer blutend mit gebrochener Nase ins Krankenhaus – der Arzt hat auch merklich Verdacht, aber sonst passiert: nichts. Gibt es das wirklich noch? Und wenn ja, warum? Stecken alle die Köpfe in den Sand oder haben sie Angst, die Situation durch Eingreifen zu verschlimmern? Die Szenen im Buch mögen realistisch sein, aber sie sind nichtsdestotrotz oder gerade deswegen frustrierend. Während des Lesens stieg die Wut auf alle, die sich meines Erachtens um solche Fälle kümmern müssen. Und so schön ich es finde, bei einem Buch voll in die Emotionen einzusteigen – diese Wut war ein sehr unangenehmes Gefühl.

Und nicht zu vergessen, auch hier wieder die Frauenfigur: sie taucht aus dem Nichts auf, verzaubert den Protagonisten, gibt in der Beziehung den Ton an und hinterlässt eine Spur verrückter Zitate und Ideen (sie entführt den Helden sogar fast – auch wenn die beiden das titelgebende Heaven doch nicht erreichen). Auch wenn Kojima wahrscheinlich kein Manic Pixie Dream Girl im klassischen Sinne sein soll – so weit entfernt davon ist sie irgendwie auch nicht.

Unterm Strich ist Heaven tatsächlich ein spannendes und aufwühlendes Buch. Gleichzeitig ließ es mich aber auch mit vielen Rückfragen und einer gewissen Unzufriedenheit zurück. Insofern: wer gerade etwas sucht, das leicht geschrieben und schwer gefüllt ist, der wird mit diesem Werk womöglich glücklich. Wer sich ernsthaft mit den Themen Mobbing oder Freundschaft auseinandersetzen will, sollte vielleicht noch etwas weiter suchen.

Ach ja: Wann gibt es eigentlich endlich mal einen Manic Pixie Dream Boy?

Interessiert? Hier die Fakten:

Titel Heaven
Autor Mieko Kawakami
Seiten 190
Ausstattung Softcover
Verlag  Dumont
Jahr 2023

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